Donnerstag, 23. April 2015

Rußlands Krieg gegen die Ukraine: Stefan Zweig

"Denn der [Aggressor] in seiner skrupellosen Täuschertechnik hütete sich, die ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen, ehe man die Welt abgehärtet hatte. So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis, und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine eine einzelne Pille, und dann einen Augenblick des Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen - zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation - eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch 'jenseits der Grenze' vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa daran zugrunde ging. Nichts Genialeres hat [er] geleistet als diese Taktik des langsamen Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns gegen ein moralisch und bald auch militärisch schwächer werdendes Europa."

Stefan Zweig: Die Welt von gestern; Berlin [Ost]/Weimar: Aufbau 1990, S. 345f.