Ende Oktober 2014 veröffentlichte der Publizist und Politologe Andrej Piontkowski (Андрей Пионтковский) ausführliche Überlegungen zum sogenannten Narva-Paradox. Ausgehend vom aggressiven Vorgehen des Putin-Regimes gegenüber seinen Nachbarn und der kaum mehr als lächerlichen Reaktion von EU und USA darauf wird folgendes Gedankenspiel durchgeführt. Estland hat bekanntermaßen eine größere russische Minderheit. Besonders betroffen davon ist die an der russischen Grenze gelegene ostestnische Stadt Narva: 95% der Einwohner gehören zur russischen Minderheit des Landes.
Stellen wir uns vor, eines nicht fernen Tages tauchen in Narva und seiner Umgebung bewaffnete "grüne Männchen" (analog zu den Vorgängen auf der Krim) auf, die handstreichartig alle Schlüsselpositionen des Gebietes übernehmen, ein "Referendum" durchführen und neue Grenzbefestigungen gegenüber dem restlichen Estland errichten. Ob sie dann noch die Aufnahme in die russische Föderation beantragen oder eine "Volksrepublik Narva" errichten, ist sekundär. Auf den Aufschrei des Westens und der Nato reagiert Putin mit der Erklärung, daß Rußland mit den Vorgängen nichts zu tun habe, daß aber die Bevölkerung des Gebietes Narva ein Recht auf Selbstbestimmung besitze, das auch vom Westen respektiert werden müsse. Schließlich seien die Russen dort mehr als 20 Jahre lang unterdrückt worden, wobei ihnen elementare Menschenrechte vorenthalten worden seien. Den folgenden militärischen Vorbereitungen des Westens begegnet Putin mit der Gegendrohung, daß er zwar den Frieden liebe, aber sich das Recht auf Verteidigung des russischen Volkes auch außerhalb der russischen Staatsgrenzen vorbehalte. Wenn der Westen die Interesse der Russen in der "Volksrepublik Narva" mit Füßen trete, sehe er sich gezwungen, zwei europäische Hauptstädte mit begrenzten Atomschlägen auszulöschen. An diesem Punkt stellt sich für den Westen erneut die Frage: Lohnt sich der Kampf? Konkreter: "Wollen wir für Estland Krieg gegen Rußland führen? Sollen hunderttausende Deutsche/Italiener/Portugiesen für Estland sterben? Hat Rußland nicht auch recht?" Es folgen die üblichen Floskeln wie: "Es kann keine militärische Lösung des Konfliktes geben."
Im Fall der Ukraine hat der Westen vertragsbrüchig beschlossen, nicht nur keine eigene Truppen für die Verteidigung des Landes zu entsenden, sondern nicht einmal Waffen zur Selbstverteidigung bereitzustellen. Stattdessen machte und macht man sich die putinische Propaganda zu eigen und betrachtet den russischen Überfall als "innere Angelegenheit" der Ukraine. Wird der Westen bei Estland wirklich entschlossener sein und begreifen, daß mit jedem Zurückweichen der zu zahlende Preis nur weiter steigen wird?
Natürlich geht es Putin nicht um Narva oder Auslandsrussen, so wie ihm auch das Schicksal der Bewohner der Krim und der Ostukraine egal ist. Sein Ziel besteht in der Demütigung und Vernichtung der Macht der Nato, des Westens, der USA. Bei der Ukraine kann sich die Nato noch auf die formale Position zurückziehen, daß die Ukraine kein Mitglied ist. Sollte der Westen auch in Estland zurückweichen, wäre das das Ende der Nato - ein Anschluß der drei baltischen Staaten durch Rußland wäre nur eine Frage der Zeit. Da sich aber auch dadurch die inneren Probleme Rußlands nicht lösen lassen, ist eine weitere Ausdehnung der Aggressionen absehbar.
In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß das Putin-Regime gegenwärtig seine Nuklear-Doktrin ändert. Hieß es früher, daß Atomwaffen bei einem konventionellen Krieg nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn die Existenz des Staates auf dem Spiel stehe, wird jetzt der Einsatz solcher Waffen auch für regionale und sogar lokale Konflikte ohne jede weitere Einschränkung erlaubt. Die Auseinandersetzung um Narva wäre ein solcher "lokaler Konflikt", in welchem sich Rußland den Einsatz von Atomwaffen künftig gestattet.
Andrej Piontkowski, Echo Moskwy 26.10.2014